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Aus: Stuttgarter Zeitung
Erstellt am: 06.04.2005
Ein Land
ertrinkt in Blut und Tränen
Das Schicksal des Tutsis Jean Pierre,
der nur überlebte, weil er sich im Bürgerkrieg 75 Tage in einem Erdloch
versteckt hat
Von Carsten Stormer
Sechs Tage ist Jean Pierre auf der Flucht. Vier Tage versteckte er sich auf
dem Dachboden eines Kongolesen - dann wird es auch dort zu gefährlich.
Kigalis Straßen sind verstopft von den Leichen ermordeter Tutsis. Jean
Pierre sieht, wie auf dem Bürgersteig eine Frau vergewaltigt wird. Neben ihr
schlitzt ein Mann den Bauch ihres Sohns mit einer Machete auf - die Frau
muss zusehen, wie ihr Kind stirbt. Als der Todeskampf zu Ende ist, wird der
Mutter mit einer Machete der Kopf abgetrennt. Der Mob beginnt zu singen.
Obwohl es in dieser Nacht regnet, sind tausende Menschen auf den Straßen.
Mörder jagen ihre Opfer, der Asphalt ist glitschig von Regen und Blut. Jean
Pierre kämpft gegen den Drang an zu rennen. Es wäre sein Todesurteil, denn
Jean Pierre gehört zum Stamm der Tutsis. Er hat Glück, denn er befindet sich
im moslemischen Viertel Kigalis. Hier kennt ihn keiner. In einem Garten
sieht er seine letzte Rettung, einen Abwasserschacht von etwa einem Meter
Durchmesser. Zeit zum Überlegen hat er keine. Er springt und fällt.
Es ist der 6. April 1994. Als Jean Pierre das brennende Flugzeug am Himmel
sieht, weiß er, dass der Tod nach Ruanda kommt. Jean Pierre sitzt gerade mit
Freunden beim Abendessen. Wenige Minuten später ist im Radio die Nachricht
zu hören, dass es die Maschine des Präsidenten war. Fast zeitgleich
mobilisiert sich eine inoffizielle Milizengruppe - die Interahmwe -,
angestachelt von "Radio Propaganda" und der Leibgarde des Präsidenten. Über
Lautsprecher hört Jean Pierre, wie gewöhnliche Hutus aufgefordert werden,
ihre Freunde und Nachbarn zu ermorden. Die, mit denen er gegessen hat,
werden die nächsten Tage nicht überleben. Ethnische Spannungen zwischen
Hutus und Tutsis sind nichts Neues in Ruanda. Jean Pierre ist sich sicher,
dass auch diese Welle der Gewalt bald zu Ende geht. Wer hätte auch ahnen
können, dass über 800 000 Tutsis in den nächsten zwei Monaten von Macheten
schwingenden Straßenkindern und marodierenden Soldaten abgeschlachtet
würden. Und wer hätte ahnen können, dass die Welt dem grausamen Völkermord
zusehen würde.
Das Wasser steht ihm bis zur Hüfte. Es rettet ihm bei dem Sturz das Leben,
und es kann zu seinem Grab werden. Er ist umgeben von Dunkelheit, nur ein
schwacher Lichtschein am Ende des Schachts ist zu sehen, elf Meter über ihm.
Im Schacht verschwimmt der Tag zur Nacht, Sekunden werden zu Stunden, ein
Tag fühlt sich an wie ein Jahr. Die erste Nacht verbringt er stehend. Das
Wasser kühlt ihn aus. Sein Körper beginnt unkontrolliert zu zittern. Er ist
sich sicher, dass er die Nacht nicht überleben wird. Bestimmt hat ihn jemand
springen sehen. Und falls nicht, wird er langsam verrotten.
Es musste inzwischen ein Tag vergangen sein, als das Päckchen mit Bananen
und Reis auf seinen Kopf fällt. Ein Kanister mit Wasser folgt an einem Seil.
Der Schacht ist breit genug, um in die Hocke zu gehen. Als die Schmerzen in
Rücken und Knien kaum noch zu ertragen sind und der Hunger in seinem Magen
brennt, fällt das nächste Päckchen herunter - gefolgt von einer
Strickleiter. Eine Stunde braucht er, bis seine klammen Hände und steifen
Beine die letzte Sprosse erreichen. Zwei Hände packen ihn an den Armen und
ziehen ihn aus seinem Gefängnis. Jean Pierre schließt die Augen und wartet
darauf, dass eine Machete in sein Fleisch fährt.
Doch er ist zum Leben verdammt. Er öffnet die Augen und sieht zum ersten Mal
in das Gesicht des Mannes, dem er sein Leben verdankt. Sein Name ist
Musamiru - ein Moslem. Jean Pierre bleibt eine Stunde in Freiheit. Im Haus
kann er sich nicht verstecken, inzwischen werden alle zwanzig Minuten die
Häuser durchsucht, viele Moslems werden getötet, weil sie flüchtende Tutsis
versteckt hatten. Er hat gerade genug Zeit, um seinem geschundenen, leblosen
und tauben Körper ein wenig Leben einzuhauchen. Währenddessen erzählt
Musamiru von den anhaltenden Massenmorden, dass die Truppen der Vereinten
Nationen das Land verlassen haben, dass die afrikanischen Nachbarn und die
ganze Welt zusieht, wie Ruanda in Blut und Tränen ertrinkt - dann muss er
zurück in die kalte, feuchte Dunkelheit.
Wann immer es geht, wirft Musamiru etwas zu Essen ins Loch. Manchmal dreimal
die Woche, manchmal nur einmal. Immer nachts. Bloß nicht von misstrauischen
Nachbarn beobachtet werden. Bloß nicht auffallen. Es hätte für beide das
Todesurteil bedeutet. Warum Musamiru hilft, bleibt sein Geheimnis. Der
Kanister mit Wasser muss wochenlang halten. Nach einigen Tagen ist es
abgestanden und brackig. Im Loch stinkt es erbärmlich, bald steht, sitzt und
schläft er in seinem eigenen Kot.
Die Träume, am Tag oder in der Nacht, sind immer die gleichen: Ein lachender
und singender Mob hackt ihn langsam in Stücke. Seine verwundete Seele wird
langsam vom Wahnsinn aufgefressen. Das Geräusch einschlagender Granaten
kommt immer näher. Truppen der Rwandan Patriotic Front (RPF) - Tutsis -
rücken aus den angrenzenden Bergen in die Stadt vor. Doch in seinem Verlies
kann er immer noch den Gesang des mordenden Mobs hören. Das Schlachten geht
weiter. Jean Pierre kann nur anhand von Musamirus Erzählungen erahnen, was
sich in der Stadt abspielt. Sein sehnlichster Wunsch: eine Granate soll sein
Loch treffen und die Qualen beenden. Sein Flehen wird nicht erhört, nach 75
Tagen wird die Strickleiter zum letzten Mal in das Loch heruntergelassen.
Doch nicht Musamiru steht vor ihm. Stattdessen starrt der schmutzige,
stinkende, abgemagerte Mann in die Gesichter bewaffneter Soldaten. Er hat
gesehen, was Macheten anrichten können. Mit der letzten Anstrengung seiner
schwindenden Kräfte wirft er sich auf einen Soldaten mit einer Kalaschnikow.
Er kann Freund von Feind nicht mehr unterscheiden, will, dass eine Kugel
sein Leben beendet. Schnell sterben, nur nicht leiden. Doch die Kraft reicht
nicht mehr. Jean Pierre wiegt nur noch 45 Kilo. 65 Kilo hat er in den
letzten zehn Wochen verloren. Halb blind und wahnsinnig von Dunkelheit,
Hunger und Terror bricht er zusammen. Erst als ihn Soldaten stützen und ihm
frisches Wasser bringen, dämmert es ihm, dass er gerettet ist. Für die
hundert Meter vom Abwasserschacht bis zum Haus Musamirus braucht er fast 15
Minuten. Sein neues Leben beginnt damit, laufen zu lernen.
Erst nach Tagen erfährt er das ganze Ausmaß der Katastrophe. Erfährt, wie
die Tutsis in Kirchen getrieben und verbrannt wurden. Wie Lehrer ihre
Schüler töteten, Nachbarn die Nachbarn, Freunde die Freunde. Und er erfährt,
dass seine Familie ausgelöscht wurde. Sein Vater wurde von einem Freund in
seinem Auto verbrannt. Die Mutter, drei Schwestern und vier Brüder
vergewaltigt, erschlagen und in einem Massengrab verscharrt. Jean Pierre
kennt die Killer, er wuchs mit ihnen auf. Sie können nach Uganda oder Zaire
fliehen.
Nur einer, der Mörder seines Vaters, wird gefasst und ins Gefängnis geworfen
- nur um wieder freigelassen zu werden, nachdem er seine Verbrechen bekennt,
bereut und sich für sie bei der Regierung entschuldigt. Jean Pierre erhält
einen Brief von ihm, der nie geöffnet wird. Jean Pierre tritt zum Islam
über. Den christlichen Gott verdammt er. Zu viele Menschen verwesten in den
Kirchen Ruandas. Der einzige Mensch, der seine Menschlichkeit bewahrte und
Mut bewies, als das Land in Chaos und Blut ertrank, ist ein Moslem. Musamiru
ist zu seiner Familie geworden, er nimmt die Plätze der Toten ein.
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Hand in Hand
für eine
gerechte
freie
demokratische
menschliche
saubere
barmherzige
friedliche
sichere
tolerante
Welt
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